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Kopieren als Kulturtechnik

Anarchie und Quellcode



— Was hat die Freie-Software-Bewegung mit Anarchismus zu tun?

Download als PDF — 10. März 2005 | Download LaTeX-Quellcode

Übersetzungen:
1. Anarchie und Quellcode
2. Anarchy and Source Code (Englisch)
3. Αναρχία και Πηγαίος Κώδικας (Griechisch von Vasilis Papavasileiou)
4. Анархия и исходный код (Russisch von Dmitriy Skorobogatov))
5. Anarquía y el código fuente (Spanisch von Vicente Vargas Martinez)

Einleitung

In einem New Yorker Restaurant saßen zwei Männer beim Mittagessen zusammen und überlegten sich die nächsten Schritte ihrer kleinen Revolution. Einer der beiden, Eben Moglen, dachte kurz darüber nach, wie sie wohl auf die Leute wirken mochten, die vorbei gingen: ‚Hier sind wir, zwei kleine bärtige Anarchisten, die sich ihre nächsten Schritte überlegen. Jeder, der unserer Gespräch belauscht, wird denken, dass wir verrückt sind. Aber ich weiß: Ich weiß, dass wir hier an diesem Tisch eine Revolution vorbereiten.‘ Und sein Gegenüber, Richard Stallman, sollte diese Revolution möglich machen. (Vgl. Williams 2002, S. 184)
Doch nicht nur Eben Moglen, Rechtsprofessor an der Columbia Law School, sieht sich als Anarchist. Richard Stallman, eine der herausragendsten Figuren der Freien-Software-Bewegung, sieht sich selbst auch so. Wir dürfen uns die Anarchisten der freien Software dabei nicht klischeehaft als Chaoten mit zerzausten Haaren, irrem Blick und Armen voller Bomben vorstellen. Ganz im Gegenteil: Statt Chaos fordert Stallman eine neue Ordnung des geistigen Eigentums im Sinn der Hackerethik — der Zugriff auf Wissen soll frei, dezentral, antibürokratisch und antiautoritär sein. Stallman hat als Amerikaner weniger scheu, sich als Anarchist zu bezeichnen, weil der Anarchie-Begriff in Amerika ein anderer ist, als in Europa. Für David DeLeon, Professor für Geschichte an der Howard Universität in Washington D.C., ist der Anarchismus in Amerika in seinem Buch The American as Anarchist die einzig radikale konstruktive Kritik an der liberalen Gesellschaft der Vereinigten Staaten. Darüber hinaus, so meine These, ist der amerikanische Anarchismus Bedingung für die Hackerethik. (Imhorst 2004)
Stallmans Botschaft ist eine radikal politische Botschaft, denn es geht um Privateigentum, einem Eckpfeiler der Gesellschaft, in der wir leben. Geistiges Privateigentum in Form von Software ist die Gelddruckmaschine des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. Schließlich hat der reichste Mann der Welt, Bill Gates, seinen Reichtum weder mit Öl, Gold oder Aktienspekulationen erworben, sondern mit Software. Mit Copyrights und Patenten auf geistigem Eigentum in Form von Software kann man seit den 1980er Jahren Milliarden US-Dollar verdienen.
Die Gegner von Stallman werfen ihm vor, dass er das geistige Eigentum abschaffen wolle und mit seiner Freien-Software-Bewegung einer kommunistischen Utopie nachhänge. Er selbst sieht sich nicht als Kommunist oder antikapitalistischer Staatsfeind, der das Eigentum abschaffen will. Stallmans Lizenz, die GNU General Public License (GPL), ein politischer Ausdruck des free spirit in der Freien-Software-Bewegung, spricht auch nicht von der Abschaffung des geistigen Eigentums. Im Gegenteil, sie will bestimmtes geistiges Eigentum schützen.
Der Programmierer freier Software verschenkt mit der GPL die Kontrolle über sein Werk, nicht aber das Werk als solches. Er behält die Autorenschaft über sein Programm. Dem Benutzer der Software wiederum werden bestimmte Freiheiten gewährt, wie die Freiheit das Werk zu modifizieren und verändert zu veröffentlichen. An diese Freiheit ist nur eine Bedingung geknüpft: Das veränderte Werk muss wieder unter der GPL stehen. Ähnliche Lizenzen gibt es auch für Bücher, Musik und anderen Formen geistigen Eigentums. Diese Freiheiten können von keinem zurückgenommen werden. Freie Software soll nicht Eigentum eines Einzelnen, sondern das Eigentum von allen sein. Ihr Gegenstück ist die proprietäre Software. Ein proprietäres Programm wie Microsoft Word ist Privateigentum der Firma Microsoft. Wer sich Word installiert, hat nur ein Nutzungsrecht an dem Programm. Die umfangreiche Lizenz soll Word davor schützen, dass das Programm einfach weitergegeben oder modifiziert wird. Die GPL dagegen ermutigt den Anwender zur Modifikation und zur Weitergabe der Software. Niemand ist vom Eigentum an GPL-Software ausgeschlossen. Ihre Verbreitung kann deshalb von niemandem kontrolliert werden. Wer sie haben möchte, kann sie einfach kopieren und weitergeben, wodurch die Verfügbarkeit von GPL-Software sehr schnell wächst. Die GPL verhindert zwar, dass Menschen von dem Gebrauch freier Software ausgeschlossen werden, aber sie schließt auf der anderen Seite ebenfalls aus, dass jemand aus freier Software proprietäre macht. Niemand kann daran gehindert werden, das freie Betriebssystem GNU/Linux zu benutzen, und niemandem kann es weggenommen werden. Jeder, der GNU/Linux aus dem Internet herunter lädt, auf seinen Rechner installiert, Kopien davon verschenkt oder verkauft, dem gehört es auch. In diesem Sinne ist die GPL eher eine Anti-Lizenz, weshalb Stallman von ihr auch lieber als Copyleft spricht anstatt von einem Copyright.
Grundlegend für Stallmans politische Philosophie ist die Hackerethik. Ein Kodex, den sich eine Gruppe von Computerfreaks am Massachusetts Institute of Technology (MIT) gegen Ende der 1950er Jahre gegeben hatte. Sie lernten gemeinsam die ersten Computer am MIT zu programmieren und das Wissen darüber miteinander zu teilen. Das gemeinsame Programmieren, Lernen und den freien Austausch von Wissen nannten sie hacken und sich selbst Hacker, bevor Journalisten Computerpiraten so nannten. Die Hackerethik hat ihre anarchistischen Momente in der Forderungen nach Freiheit und Dezentralisierung, sowie in ihren antibürokratischen und antiautoritären Bestrebungen.
Während der Anarchismus in Europa weitestgehend verschwunden ist, hat er in der amerikanischen Tradition überdauert. Dafür macht DeLeon in The American as Anarchist historisch drei wesentliche Eigenschaften der amerikanischen Lebensweise verantwortlich: Den radikalen Protestantismus als nach innen gekehrte Religion, das weite Siedlungsgebiet, in denen sich Gemeinschaften der Kontrolle des Staates entziehen konnten, und den amerikanischen Anarcho-Kapitalismus1:

Unsere Radikalen konzentrieren sich auf Emanzipation, sie wollen die Ketten der Herrschaft zerreißen, anstatt neue zu schmieden. Sie sind Befreier und keine Gründer von Institutionen; sie treten für die Rechte von Frauen, Schwulen, Schwarzen und für die Befreiungstheologie ein; sie sind Propheten, keine Priester; Anarchisten und keine Verwalter. Im allgemeinen vermuten sie, dass der befreite Geist wenig bis gar keine Führung braucht. (DeLeon 1978, 4)

Amerikanischer Radikalismus

Der Anarchismus in den USA ist nach zwei Jahrhunderten Unabhängigkeit fundamental vom europäischen oder russischen Anarchismus zu unterscheiden.Die Einwohner der USA gaben sich eine eigene nationale Identität, als sie sich von Europa emanzipierten. Dabei schufen sie einen eigenen liberalen Radikalismus des „new lands, new men, new thoughts.“ Der amerikanische Radikalismus war neu und keine Variation des europäischen Radikalismus. Die amerikanischen Anarchisten wollten niemals alle Autorität abschaffen. Sie waren Vertreter einer neuen Form von Ordnung, die des amerikanischen Anarchismus. Problematisch an dem Begriff des Anarchismus ist, dass er selbst niemals eine Doktrin oder feststehende Lehre sein kann. Der Anarchismus kann von jedem seiner Anhänger neu überdacht und wieder anders vertreten werden. In Amerika führte das zu der ausgeprägten Spaltung in einen ‚rechten‘ und einen ‚linken‘ Anarchismus. Konsistenz in der politischen Theorie darf man von Anarchisten nicht erwarten, denn der Anarchismus ist eher eine sich stets neu vollziehende Situationsanpassung. Doch gerade diese Anpassungsfähigkeit führt dazu, dass uns der Anarchismus durch die Geschichte der Menschheit begleitet und zuletzt verstärkt in der Hippie-Bewegung zum Ausdruck kam.
Die anarchistischen Hippies in Kalifornien waren die Pioniere der politischen Gegenkultur der 1960er Jahre. Sie beeinflussten die linken Bewegungen auf der ganzen Welt. Mit ihrer politischen Form der ‚Direkten Aktion‘, der ältere Begriff aus der anarchistischen Tradition ist ‚Propaganda der Tat‘, organisierten sie Kampagnen gegen Militarismus, Rassismus, sexuelle Diskriminierung und so fort. Die englischen Soziologen Richard Barbrook und Andy Cameron bezeichnen sie in ihrem Aufsatz Kalifornische Ideologie als „Liberale im sozialen Sinne des Begriffs.“ Die Hippie-Bewegung schuf keine Hierarchien wie die traditionelle Linke, sie schufen kollektive und demokratische Strukturen.

Überdies verband die kalifornische Linke den politischen Kampf mit einer Kulturrebellion. Anders als ihre Eltern weigerten sich die Hippies, nach den strengen gesellschaftlichen Konventionen zu leben, in die organisierte Menschen seitens des Militärs, der Universitäten, der Unternehmen und selbst der linksgerichteten politischen Parteien gezwungen wurden. Statt dessen zeigten sie ihre Ablehnung der ordentlichen Welt durch lässige Kleidung, ihre sexuelle Promiskuität, ihre laute Musik und ihre entspannenden Drogen. (Barbrook und Cameron 1997)

Anarchistische Hacker

Für sexuelle Promiskuität, laute Musik und entspannende Drogen waren die ersten Computerfreaks am MIT nicht unbedingt zu gewinnen. Trotzdem haben sie einiges mit den Hippies gemeinsam, nämlich die anarchistische Ablehnung von autoritären und bürokratischen Strukturen und die Forderung nach ihrer Überwindung. Nach Steven Levys Buch Hackers — Heroes of the computer revolution entwickelte sich die Subkultur der Hacker in den späten 1950er Jahren am MIT. Im Frühling 1959 bot die Universität den ersten Kurs in Computerprogrammierung an. Einen Computer zu bedienen war zu der Zeit mit großem Aufwand verbunden. Befehle gab man in diese riesige Maschinen noch über Lochkarten ein, Bildschirme hatten sie nicht. Bis man allerdings soweit war, dass man einen Computer mit Lochkarten programmieren durfte, musste man zuerst an den Ingenieuren vorbei, die sich selbst als Priesterschaft bezeichneten und über den Computer wachten. Wollten die ersten Hacker wie Peter Samson, Bob Saunders oder Alan Kotok an einen dieser Millionen Dollar teuren IBM-Computer, wurden sie sehr schnell von der Priesterschaft vertrieben.

An den IBM-Computern arbeiten zu wollen, war frustrierend. Es gab nichts schlimmeres, als die lange Wartezeit zwischen der Eingabe der Lochkarten und der Ausgabe des Ergebnisses. Wenn du nur einen Buchstaben in einer Instruktion falsch gesetzt hast, ist das ganze Programm abgestürzt und du musstest den ganzen Prozess von vorne beginnen. Das ging Hand in Hand mit der erdrückenden Ausbreitung gottverdammter Regeln, die die Atmosphäre des Rechenzentrums immer weiter durchdrangen. Die meisten Regeln wurden extra erfunden, um junge verrückte Computerfans wie Samson und Kotok und Saunders physisch von den Rechnern fernzuhalten. Die strengste Regel war, dass niemand den Computer wirklich berühren oder sich an ihm zu schaffen machen durfte. Das war etwas, was sie wahnsinnig machte. (Levy 1984, 27)

Samson und Kotok reichte es nicht, sich die Computer nur anzusehen. Sie wollten wissen, wie sie funktionierten. So belegten sie den Computerkurs, um endlich herauszufinden, wie Computer arbeiten. Die strengen Regeln, die im Bereich der Lochkartencomputer herrschten, und die Priesterschaft, die über die Rechner wachte, machten das Hacken schwer. In Gang kam die Subkultur der Hacker erst mit einer neuen Computergeneration, die keine Lochkarten mehr brauchte. Wollte man an den neuen Computern arbeiten, gab es auch nicht so eine große bürokratische Hürde zu überwinden wie bei den alten IBM-Maschinen. Dadurch, dass man Programme direkt mit Tastatur und Bildschirm am Computer starten konnte, ohne einen Stapel Karten einlesen zu müssen, inspirierten die neuen Computer die Programmierer zu einer neuen Form des Programmierens, und die Hacker waren ihre Pioniere. An einem Computer wurden außerdem mehrere Bildschirme und Tastaturen angeschlossen, so dass mehrere Leute den Rechner nutzen konnten, indem sie sich die Rechenzeit teilten.

Hackerethik

In ihrem täglichen Kampf um Rechenzeit und gegen die Autoritäten, die sie daran hinderten, zu programmieren, entwickelten die jungen Hacker ihre eigene Ethik. Noch waren sie wenige, und sie nahmen ihre Hackerethik noch nicht ganz so ernst, wie es später bei Hackern der Fall sein wird. Die Hackerethik wurde nicht als Manifest veröffentlicht, sie wurde in den ersten Jahren mündlich überliefert. Sie wurde auch nicht diskutiert, sondern von den Hackern, die sie annahmen, wie Axiome hingenommen. Die wichtigsten Punkte der Hackerethik sind, dass der Zugriff auf Computer unbegrenzt, total und alle Information frei sein soll. Autoritäten soll misstraut und Dezentralisierung gefördert werden. (Levy 1984, S. 40 ff.)
Vor allem die Universitätsbürokratie hat es Hackern sehr schwer gemacht, wertvolle Rechenzeit an den wenigen Computern zu bekommen. Offene Systeme ohne Bürokratie und Autoritäten ermöglichten es ihnen, viel produktiver an den Computern zu sein. Ohne autoritäre Aufsicht durch die IBM-Priester konnten sie am Computer viel mehr leisten. Sobald sie hinter der Konsole einer IBM-Maschine saßen, hatten sie Macht über sie. So ist es fast natürlich, dass sie jeder anderen Macht misstrauten, die sie ohnmächtig machen und die Hacker davon abhalten wollte, ihre Macht über den Computer voll auszunutzen.
Levy hält in Hackers die Geschichte der Hackerkultur und ihrer Hackerethik am MIT bis zu ihrem damals vorläufigen Ende 1984 fest. Ein ganzes Kapitel befasst sich mit Richard Stallman, den Levy als den letzten wahren Hacker sieht. Dort sagt Stallman, dass die Hackerkultur am MIT das lebende Beispiel für eine anarchistische und großartige Einrichtung gewesen sei, bevor sie ausgelöscht wurde.1 Stallman gründete nach dem Vorbild der Hackerkultur eine neue Gemeinschaft, das GNU-Projekt, einer der wichtigsten Pfeiler der Freien-Software-Bewegung.
Denn die Freie-Software-Bewegung ist mehr als das GNU-Projekt. Die wichtigste Trennlinie verläuft wohl zwischen den Anhängern von BSD- und GPL-Lizenzen. Die Berkeley Software Distribution (BSD) ist eine Version des Betriebssystems Unix, die an der Universität von Kalifornien in Berkeley Ende der 1970er Jahre entstanden ist. BSD bezeichnet heute eine ganze Reihe von Unix-Ablegern, wie FreeBSD, NetBSD oder OpenBSD. Im Gegensatz zur GPL erlaubt es die BSD-Lizenz, dass der freie Quellcode unter bestimmten Bedingungen in proprietärer Software verwendet werden darf. Es musste bis vor kurzem lediglich der Universität von Kalifornien gedankt werden. Am Anfang eines Software-Projekts kann es eine große Streitfrage sein, ob es die GPL- oder die BSD-Lizenz haben soll. Entscheidet man sich für die BSD-Lizenz, gibt man anderen die Möglichkeit, kommerzielle Versionen aus der eigenen Arbeit zu entwickeln. Entscheidet man sich für die GPL, ist jeder verpflichtet, Quellcode in das Projekt zurück fließen zu lassen. Der Journalist Peter Wayner schreibt in seinem Buch Kostenlos und überlegen! Wie Linux und andere freie Software Microsoft das Fürchten lehren über diesen Streit:

Wer sich der GPL anschließt, hat wahrscheinlich auch weniger Probleme mit Richard Stallman, oder sieht zumindest davon ab, öffentlich über ihn herzuziehen. GPL-Anhänger neigen zur individualistischen Bilderstürmerei, halten die eigenen Projekte für ziemlich kultig und werden von einer merkwürdigen Mischung aus persönlicher überzeugung und ‚Was-bin-ich-doch-für-ein-cooler-Typ‘-Hysterie angetrieben. Anhänger von BSD-Lizenzen machen dagegen einen eher pragmatischen, organisierten und konzentrierten Eindruck. (Wayner 2001, 159)

Die BSD-Anhänger treiben kaum einen Kult um ihre Lizenz. Meist streichen sie nur die Freiheit ihrer BSD-Lizenz gegenüber der GPL-Lizenz heraus. Sie haben auch keine Coverstars wie Richard Stallman oder Linus Torvalds. Von der Presse werden die BSD-Projekte deshalb auch meist ignoriert. Stallmans Kreuzzug zur Befreiung des Quellcodes können BSD-Anhänger daher nicht viel abgewinnen.
Stallmans Sicht ist radikaler. Er will ein System freier Software, das Unix zwar ähnlich, aber besser sein soll. Deshalb nannte er seine Arbeit GNU, ein rekursives Akronym für „GNU’s Not Unix“. Ziel des GNU-Projekts ist es seit dem, ein vollständig freies und funktionstüchtiges Betriebssystem mit allen notwendigen Programmen zu entwickeln. Es sollte von Anfang an mehr als nur ein Sammelbecken für freie Software sein. GNU ist ein System freier Software, das jede proprietäre Software durch GNU-Software ersetzen soll. Mit der Gründung des GNU-Projekts beginnt Stallmans Kreuzzug. Die Freiheit, die vorher nur in der Hackerethik kodifiziert war, wurde nun in einem Vertrag zwischen dem Autor und dem Nutzer rechtsverbindlich in der GNU General Public License festgehalten. Die GPL soll das System freier Software davor schützen, ausgebeutet zu werden.

Der Anarchismus der Open-Source-Initiative

Am 15. Mai 1969 stürmten bewaffnete Polizeieinheiten auf Befehl des Gouverneurs von Kalifornien, Ronald Reagan, den People’s Park in der Nähe des Campus der Universität von Kalifornien, um gegen protestierende Hippies vorzugehen. Dabei wurde ein Mensch getötet und über hundert verletzt. Das konservative Establishment mit Gouverneur Reagan und die Gegenkultur der Hippies schienen zwei antagonistische Gegensätze zu sein. David DeLeon findet in seinem Buch The American as Anarchist allerdings heraus, dass Gouverneur Reagan und die Hippies eher zwei Extreme desselben amerikanischen Anarchismus sind.2
Für DeLeon ist der Anarchismus in den USA die einzige radikale Kritik von Rechten und Linken an der liberalen amerikanischen Gesellschaft. Er nennt die beiden Flügel auch ‚rechte und linke Libertäre (libertarians)‘. Wobei Libertär nur ein anderes Wort für Anarchist ist.
Wendet man die Theorie von DeLeon auf die Anhänger der GPL und die Verfechter der Open-Source-Definition an, dann sind sie ebenfalls zwei Extreme des amerikanischen Anarchismus. Eric S. Raymond nennt diese beiden Extreme in seinem Aufsatz The Cathedral and the Bazaar das Kathedralen- und das Basar-Modell.(Vgl. Raymond 2001)
Frederick P. Brooks stellte in seinem 1975 erschienen Buch The Mythical Man-Month: Essays on software engineering (Vgl. Brooks 1995) ein Gesetz auf, nachdem sich jedes Softwareprojekt verzögert, je mehr Entwickler an dem Projekt beteiligt sind. Wie viele andere Hacker glaubte auch Eric Raymond als ehemaliges Mitglied des GNU-Projekts, dass viele Köche den Brei verderben würden und nach dem Brook’schen Gesetz ein Software-Projekt davon profitiere, wenn nur wenige an ihm beteiligt seien. Auch die Software-Projekte des GNU-Projekts bestehen nach diesem Gesetz aus nur wenigen Entwicklern. Zu Raymonds Erstaunen bewies Linus Torvalds mit der schnellen Veröffentlichung von Linux das genaue Gegenteil: Je mehr Hacker er einlud, im Linux-Projekt mitzumachen, desto besser wurde es.
Raymond schrieb seine Beobachtungen in dem Aufsatz The Cathedral and the Bazaar nieder, indem er die unterschiedlichen Stile in der Leitung von GNU-Projekten mit dem Linux-Projekt kontrastierte. Den Aufsatz entwickelte er aus einer Rede, die er zum ersten Mal 1997 auf einem Linux Kongress in Deutschland hielt. Der Name des Aufsatzes stammt von seiner zentralen Analogie: GNU-Programme seien eher wie beeindruckende Kathedralen, zentral geplante Monumente der Hackerethik, gebaut für die Ewigkeit. Das Linux-Projekt gliche eher einem großen Basar mit schwatzenden Händlern. In dieser Analogie impliziert ist auch ein Vergleich zwischen Stallman und Torvalds. Stallman sei der klassische Vertreter des Architekten einer Kathedrale. Er ist ein Programmier-Guru, der für 18 Monate verschwinden könne, um mit einem genialen C-Compiler wieder aufzutauchen. Torvalds sei mehr wie der Gastgeber einer Dinnerparty. Diskussionen über das Design von Linux überlässt er den einzelnen Projektgruppen. Er schreitet nur ein, wenn es in einer Gruppe dermaßen Streit gibt, dass sie einen Schiedsrichter braucht. Schließlich entscheidet letztendlich Torvalds darüber, was in den Kernel hinein kommt. Seine wichtigste Aufgabe bestehe darin, den Fluss der Ideen aufrechtzuerhalten.
Seine Analyse brachte Raymond den Ruf ein, ein ‚Evangelist des freien Marktes‘ zu sein. Er hält von staatlichen Eingriffen in den Markt nicht viel. Der Einzelne soll generell durch Dereglementierung gestärkt werden, was bei ihm auch Waffenbesitz miteinschließt. DeLeon würde ihn in The American as Anarchist eben unter seiner Kategorie der ‚rechten Libertäre‘ sortieren. ‚Rechte Libertäre‘ sind Anarchisten, die meinen, dass die Regierung sie in Ruhe lassen solle, so dass sie mit ihrem Geld und ihren Waffen Anfangen können, was sie wollen. Als Raymond nun die Freie-Software-Bewegung und ihren produktiven Anarchismus untersuchte, entdeckte er, was er als rechter Libertarier entdecken wollte: einen unreglementierten freien Markt. Die Grundlage des Erfolges der Freien-Software-Bewegung ist demnach die Freiheit der Nutzer. Das Basar-Modell spricht somit schon für eine größtmögliche Deregulierung und Freiheit, da viele verschiedene Händler miteinander konkurrieren. GNU-Projekte, oder auch firmeneigene Entwicklungen proprietärer Software, sollen dagegen ähnlich strukturiert sein wie die mittelalterliche Gemeinde: Der Kathedralenbau wird mit dem Geld der Stadt von einer Gruppe von Priestern vorangetrieben, um die Ideen eines Architekten zu verwirklichen. So kann der Kathedralenbau nur gelingen, wenn genügend Geld, ein talentierter Architekt und Arbeiter vorhanden sind. Die vielen verschiedenen Händler auf dem Basar versuchen sich dagegen gegenseitig aus dem Feld zu schlagen. Der Beste von ihnen hat auch die meisten Kunden, ganz im sozialdarwinistischen Sinn: Der am besten Angepasste überlebt.
Das Problem an Raymonds Aufsatz ist allerdings, dass weder GNU-Projekte als reine Kathedrale noch das Linux-Projekt wirklich als Basar erscheinen. Vor allem dem Linux-Projekt, mit seinen Veröffentlichungen in möglichst kurzen Zeiträumen und seinen Tausenden von Mitarbeitern, steht ganz oben voran Linus Torvalds, der entscheidet, was in den neuen Kernel Einzug findet und was nicht. Das Linux-Projekt ist mehr eine Mischform als ein reiner Basar oder eine reine Kathedrale.
In seiner Rede sprach Raymond 1997 noch von freier Software. Ab Februar 1998 ersetzte er in seinem Aufsatz freie Software durch Open Source. Für ihn und einige andere Anhänger der Freien-Software-Bewegung wurde Stallman immer mehr zum Ärgernis. Sie fanden, dass Stallman für Geschäftsleute wegen seiner politischen Aussagen zu sehr nach Kommunismus roch. Außerdem wollten sie, dass die Bewegung sich nicht zu sehr auf die GPL konzentrierte. Sie wollten ein System von Software, in das GPL-Software genauso passt, wie Software, die unter der BSD- oder ähnlichen Lizenzen fällt und nannten das ganze Open Source. Volker Grassmuck sagt in Freie Software — Zwischen Privat- und Gemeineigentum dazu:

‚Free‘ ist nicht nur zweideutig (‚Freibier‘ und ‚Freie Rede‘), sondern offensichtlich war es in The Land of the Free zu einem unanständigen, ‚konfrontationellen‘, irgendwie kommunistisch klingenden four-letter word geworden. (Grassmuck 2002, 230)

Der letzte wahre Hacker

Levy interviewte für sein Buch Hackers auch Richard Stallman. Seiner Geschichte widmet er ein ganzes Kapitel, was nicht umsonst mit „Epilogue: The Last Of The True Hackers“ überschrieben ist. Denn 1984 stand es schlecht um die freie Software. Stallman gehört zur Generation der ersten Hacker, die riesige IBM-Maschinen an amerikanischen Universitäten programmiert hatten. Die jungen Leute, die in den 1980er Jahren in den Computerräumen der Universitäten auftauchten, lernten an ihren Heimcomputern unberührt von jeder Hackerethik und Hacker-Gemeinschaft das Programmieren.

Diese neuen Leute schrieben wie ihre Vorgänger im Rechenzentrum aufregende Programme. Doch mit ihnen hielt auch etwas neues Einzug — als ihre Programme auf den Computermonitoren auftauchten, waren sie mit Copyrights versehen. Für Stallman, der daran festhielt, dass alle Information frei fließen sollte, war das Blasphemie. ‚Ich denke nicht, das Software jemanden gehören sollte‘, da diese Praxis die Menschlichkeit als Ganzes sabotiert. Es hindert Leute daran, den kompletten Nutzen aus der Software zu ziehen. (Levy 1984, 419)

Diese neuen Hacker interessierten sich auch nicht sonderlich für die Hackerethik. Stallman hatte im Rechenzentrum des MIT gelernt, dass eine anarchistische Institution möglich ist. Nur fehlten ihm die Mitstreiter aufgrund der Dezentralisierung der Hacker durch die Heimcomputer. Anfang der 1980er Jahre fühlte er sich als letzter Anhänger einer scheinbar toten Bewegung, die sich an den anarchistischen Grundsätzen der Hackerethik ausrichtete. Diese Bewegung wollte er wiederbeleben. Mit der Freien-Software-Bewegung wird die Hackerkultur wiedergeboren und Stallman tritt an, den Quellcode von proprietären Lizenzen zu befreien.
Die Freie-Software-Bewegung in Form von GNU, BSD oder Open-Source-Initiative ist die radikale, anarchistische Kritik an der heutigen Ordnung des geistigen Eigentums nicht nur in der liberalen Gesellschaft der Vereinigten Staaten, sondern an dessen Ordnung in der ganzen globalisierten Welt. Im Gegensatz zu den BSD-Vertretern oder dem marktwirtschaftlichen Anarchismus Eric Raymonds von der Open-Source-Initiative plädiert Stallman für einen genossenschaftlichen Anarchismus, der zumindest in Bezug auf das geistige Eigentum frei nach dem französischen Anarchisten Jean-Pierre Proudhon sagt, dass Eigentum Diebstahl sei. Für viele ist die Forderung nach Abschaffung des geistigen Privateigentums heute undenkbar. Dabei war noch vor einem halben Jahrtausend die Einführung von Eigentum undenkbar. So sagt Jeremy Rifkin in Access — Das Verschwinden des Eigentums:

Dass wir Marktsystem und Warentausch hinter uns lassen, ist derzeit für viele Menschen noch genauso unvorstellbar, wie es die Einhegung und Privatisierung von Land und Arbeit und damit ihre Einbindung in Verhältnisse des Privateigentums vor einem halben Jahrtausend gewesen sein mögen. (Rifkin 2000, 24)

Stallman und die GNU-Fraktion der Freien-Software-Bewegung wollen geistiges Eigentum nicht nur in Gestalt von Software, sondern auch in der Gestalt von Büchern oder Musik von proprietären Lizenzen befreien. Warum, das sagt Stallman im Gespräch mit Spiegel Online: „Ich tendiere mehr zu der linken anarchistischen Idee, daß wir uns freiwillig zusammensetzen und ausdenken sollen, wie wir durch Zusammenarbeit für alle sorgen können.“ (Klagges 1996).

Literatur

Barbrook, R. und Cameron, A. (1997), ‚Die kalifornische Ideologie‘. http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/1007/1.html [30. November 2004].

Brooks, F. P. (1995), The Mythical Man Month: Essays on Software Engineering. New York.

DeLeon, D. (1978), The American as Anarchist. Baltimore, MA.

Grassmuck, V. (2002), Freie Software – Zwischen Privat- und Gemeineigentum. Bonn.

Imhorst, C. (2004), Die Anarchie der Hacker – Richard Stallman und die Freie-Software-Bewegung. Marburg.

Klagges, H. (1996), ‚Es reicht mir nicht, nur einfach neugierig auf die Zukunft zu sein, ich will etwas ändern‘. Interview with Richard Stallman.http://www.klagges.com/pdf/interview _stallman.pdf [30. November 2004].

Levy, S. (1984), Hackers: Heroes of the Computer Revolution. New York.

Raymond, E. S. (2001), The Cathedral and the Bazaar: Musings on Linux and Open Source by an Accidental Revolutionary. Sebastopol, CA.

Rifkin, J. (2000), Access, Das Verschwinden des Eigentums Frankfurt am Main.

Wayner, P. (2001), Kostenlos und überlegen! Wie Linux und andere freie Software Microsoft das Fürchten lehren. Stuttgart.

Williams, S. (2002), Free as in Freedom. Richard Stallman’s Crusade for Free Software.. Sebastopol, CA.

Endnoten

1 Alle Übersetzungen aus englischen Quellen durch den Autor.

2 In seinem Wahlkampf zum Präsidenten trat Reagan mit anarcho- kapitalistischen Wahlkampf-Slogans entschieden für das freie Unternehmertum und für eine weitere Deregulierung des freien Marktes ein. (Vgl. DeLeon 1978, 84)